Erscheinungsdatum: Februar 2015
Seiten: 116, f
Preis: 3,90
Warum rezensieren die denn hier nun
die allseits bekannte Blickfang Ultra? Die Frage ist vielleicht zu 10 Prozent
berechtigt, schließlich handelt es sich beim "Magazin der
Ultra-Szene", wie der eigens auferlegte Untertitel lautet, nicht um ein
klassisches Fanzine, sondern um ein professionell gemachtes Werk mit Verlag im
Rücken - bezogen werden kann es seit geraumer Zeit nicht nur über Gruppen am
Stadionstand, sondern auch an den meisten Bahnhofskiosken. Seit nunmehr acht
Jahren erscheint es etwa quartalsweise und bietet seither kontinuierlich
informative Berichte, tiefgehende Interviews und stilechte Fotos aus den
Kurven.
So auch bei der neuesten Ausgabe, die bereits auf dem Titel einen
geschätzt 50-Jährigen bei einem unterklassigen Spiel in Italien abbildet, der
unmittelbar neben dem Capo lässig mit einem Zigarettenstummel in der Hand im
geöffneten Ninja-Zipper über den Zaun lunzt.
Mit dem Laufe der Zeit gab so einige
Kritik, vor allem vermeintlich linke Szenen oder Gruppen stellten die
Zusammenarbeit ein. Hauptargument ist, dass von Seiten der BFU-Redaktion mit
teils politisch rechtsoffenen Gruppen zusammengearbeitet würde oder die Anti-Diskriminierungsarbeit
mancher Gruppen wiederum überhaupt keine Rolle im Heft spiele. Beides trifft
durchaus zu, nur ist es die Bestimmung von BFU, ein Abbild der
"Kurven-Wirklichkeit" zu schaffen - und dazu gehören nunmal auch
Gruppen wie die Desperados Dortmund. Wenn etwa über sie ein Gruppenportrait
gemacht oder die Streetart-Rubrik mit Graffitifotos von eben jenen Ultras
gefüllt wird, wird das Ganze aus Redaktionssicht vorurteils- und wertungsfrei
gemacht. Vice versa verhält es sich dann natürlich mit Szenen, die sich
jeglicher Zusammenarbeit verwehren. Dass die Redaktion um Mirko Otto und Holm
Göldner all die Gruppen, die in 35 Ausgaben Blickfang Ultra, beleuchtet wurden,
letztlich auch gut findet, darf mal ganz stark bezweifelt werden. Aber danach
sollte es bei einem vereinsübergreifendem Szene-Magazin ohnehin nicht gehen.
Ich komme zur aktuellen Ausgabe 35,
denn die war, nicht nur in meinen Augen, eine der stärksten der letzten zwei, drei
Jahre. Und das nicht nur, weil ich selbst einen kleinen Anteil im Zuge einer im
Heft abgedruckten Fanzine-Gesprächsrunde beitrug. Abwechslung ist das
Stichwort. Neben Erlebnisberichten aus Indonesien und Portugal führt ein auf
den ersten Blick etwas langatmiger Text zum Wertekanon der Ultras in diese
Ausgabe. Stellenweise ist dieser etwas pathetisch, was sich bei wertlastigen
Formulierungen aus und über diese Subkultur ja auch fast nicht vermeiden lässt,
der/die Autoren unterstreichen mit einer ordentlichen Portion
Kapitalismuskritik jedoch vor allem die Potentiale, die Ultrà auch in
Deutschland haben kann oder haben könnte. Wahrlich ein Text zum Nachdenken,
auch wenn der revolutionäre Gedanke sich in Deutschland wohl eher (noch) nicht
in Taten umsetzen lässt.
Wirklich begeistert hat mich der
große Italien-Block, der auf 24 Seiten über die neuesten Entwicklungen in
Sachen Tessera del Tifoso aufklärt und meinen selbstgewonnenen Eindruck
bestätigt, dass es im Mutterland der Ultras wieder leicht bergauf geht.
Ebenfalls geradezu verschlungen habe
ich die Erzählungen aus dem polnischen Kohlepott. Der Autor ist bekanntermaßen
seit Jahren ein Experte für diese verruchte Gegend (und darüber hinaus für
gesamt Polen) und auch wenn ich - als langjähriger Polenfahrer - doch schon
selbst über ein gewisses Maß an Informationen und Erfahrungen in diesen
Regionen sammeln konnte, ist die Aufdröselung über die komplexen Rivalitäten
aus der Województwo śląskie immer wieder ein Hochgenuss. Ein weiterer, für mich
wichtiger Artikel folgt direkt zwei Seiten später: Über die Passolig und die
damit verbundene Problematik in den türkischen Stadien wurde schon mehrfach
(auch andernorts) berichtet, doch das Interview mit einem KaraKızıl-Mitglied
verschafft noch einmal neue und persönliche Eindrücke zur Situation. Gerade am
Ende folgt ein für mich entscheidender Satz, der auf unzufriedene Sponsoren in
den teils leeren SüperLig-Stadien anspielt und über den ich noch Tage später
nachdachte: "Es ist paradox, dass der kapitalistische Fußball sich derzeit
selber auffrisst und uns Fans die Hoffnung gibt, das Passolig ein Ende finden
wird."
Die Überbrückung der Winterpause
schildern 14 Gruppen aus ihrer Sicht. Fand ich nicht uninteressant, ist aber im
Vergleich zu dem, womit die Ausgabe 35 sonst punkten kann, eher zweitrangig.
Zum Ende des Heftes wird die gute Idee der Rubrik "Fanzine Inside"
aufgerollt. Diesmal mit einem Abdruck vom Gespräch mit einer Führungsperson des
Magdeburger Block U, das im Heft "Unterwegs #10" von Josef Gruber,
der weiter vorne im aktuellen BFU bereits ein älteres, aber absolut
lesenswertes Interview mit der inzwischen aufgelösten Fossa dei Giganti aus
Agrigento zur Verfügung stellt, erschienen war. Letztlich ein superspannender
Abschluss, auch wenn ich mich mit so mancher Wortwahl und der wertkonservativen
Ansicht des Magdeburgers (Gründer des Commando East Side) absolut nicht
identifizieren kann.
Feste Bereiche wie die Medienecke,
die Fanzine-Pinnwand und die neu eingeführte Übersichtskarte über regionale
Einzugsgebiete (gab's vor Jahren bereits mit dem Ruhrgebiet im Zuge eines
BFU-Interviews mit Ultras Gelsenkirchen) werten das Heft weiter auf und sind
nicht unwichtige Puzzleteile eines Magazins, das seit Jahren auf einem
kontinuierlichem Niveau über die wohl bedeutendste Jugend-Subkultur Europas
berichtet. Gerade im Zeitalter des World Wide Webs sollten solch Interviews,
wie zum Beispiel vor einigen Monaten mit den Red Blue Eagles 1978 aus L'Aquila
oder dem Generationen-Gespräch der Ultras Rapid in Ausgabe 29 von der Szene
mehr gewürdigt werden - sie sind Gold wert und Dokument einer großartigen
Bewegung.
STS
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