Dienstag, 31. März 2015

Blickfang Ultra #35

Herausgeber: Burkhardt & Partner Verlag
Erscheinungsdatum: Februar 2015
Seiten: 116, f
Preis: 3,90



Warum rezensieren die denn hier nun die allseits bekannte Blickfang Ultra? Die Frage ist vielleicht zu 10 Prozent berechtigt, schließlich handelt es sich beim "Magazin der Ultra-Szene", wie der eigens auferlegte Untertitel lautet, nicht um ein klassisches Fanzine, sondern um ein professionell gemachtes Werk mit Verlag im Rücken - bezogen werden kann es seit geraumer Zeit nicht nur über Gruppen am Stadionstand, sondern auch an den meisten Bahnhofskiosken. Seit nunmehr acht Jahren erscheint es etwa quartalsweise und bietet seither kontinuierlich informative Berichte, tiefgehende Interviews und stilechte Fotos aus den Kurven. 

So auch bei der neuesten Ausgabe, die bereits auf dem Titel einen geschätzt 50-Jährigen bei einem unterklassigen Spiel in Italien abbildet, der unmittelbar neben dem Capo lässig mit einem Zigarettenstummel in der Hand im geöffneten Ninja-Zipper über den Zaun lunzt.

Mit dem Laufe der Zeit gab so einige Kritik, vor allem vermeintlich linke Szenen oder Gruppen stellten die Zusammenarbeit ein. Hauptargument ist, dass von Seiten der BFU-Redaktion mit teils politisch rechtsoffenen Gruppen zusammengearbeitet würde oder die Anti-Diskriminierungsarbeit mancher Gruppen wiederum überhaupt keine Rolle im Heft spiele. Beides trifft durchaus zu, nur ist es die Bestimmung von BFU, ein Abbild der "Kurven-Wirklichkeit" zu schaffen - und dazu gehören nunmal auch Gruppen wie die Desperados Dortmund. Wenn etwa über sie ein Gruppenportrait gemacht oder die Streetart-Rubrik mit Graffitifotos von eben jenen Ultras gefüllt wird, wird das Ganze aus Redaktionssicht vorurteils- und wertungsfrei gemacht. Vice versa verhält es sich dann natürlich mit Szenen, die sich jeglicher Zusammenarbeit verwehren. Dass die Redaktion um Mirko Otto und Holm Göldner all die Gruppen, die in 35 Ausgaben Blickfang Ultra, beleuchtet wurden, letztlich auch gut findet, darf mal ganz stark bezweifelt werden. Aber danach sollte es bei einem vereinsübergreifendem Szene-Magazin ohnehin nicht gehen.

Ich komme zur aktuellen Ausgabe 35, denn die war, nicht nur in meinen Augen, eine der stärksten der letzten zwei, drei Jahre. Und das nicht nur, weil ich selbst einen kleinen Anteil im Zuge einer im Heft abgedruckten Fanzine-Gesprächsrunde beitrug. Abwechslung ist das Stichwort. Neben Erlebnisberichten aus Indonesien und Portugal führt ein auf den ersten Blick etwas langatmiger Text zum Wertekanon der Ultras in diese Ausgabe. Stellenweise ist dieser etwas pathetisch, was sich bei wertlastigen Formulierungen aus und über diese Subkultur ja auch fast nicht vermeiden lässt, der/die Autoren unterstreichen mit einer ordentlichen Portion Kapitalismuskritik jedoch vor allem die Potentiale, die Ultrà auch in Deutschland haben kann oder haben könnte. Wahrlich ein Text zum Nachdenken, auch wenn der revolutionäre Gedanke sich in Deutschland wohl eher (noch) nicht in Taten umsetzen lässt.
Wirklich begeistert hat mich der große Italien-Block, der auf 24 Seiten über die neuesten Entwicklungen in Sachen Tessera del Tifoso aufklärt und meinen selbstgewonnenen Eindruck bestätigt, dass es im Mutterland der Ultras wieder leicht bergauf geht.

Ebenfalls geradezu verschlungen habe ich die Erzählungen aus dem polnischen Kohlepott. Der Autor ist bekanntermaßen seit Jahren ein Experte für diese verruchte Gegend (und darüber hinaus für gesamt Polen) und auch wenn ich - als langjähriger Polenfahrer - doch schon selbst über ein gewisses Maß an Informationen und Erfahrungen in diesen Regionen sammeln konnte, ist die Aufdröselung über die komplexen Rivalitäten aus der Województwo śląskie immer wieder ein Hochgenuss. Ein weiterer, für mich wichtiger Artikel folgt direkt zwei Seiten später: Über die Passolig und die damit verbundene Problematik in den türkischen Stadien wurde schon mehrfach (auch andernorts) berichtet, doch das Interview mit einem KaraKızıl-Mitglied verschafft noch einmal neue und persönliche Eindrücke zur Situation. Gerade am Ende folgt ein für mich entscheidender Satz, der auf unzufriedene Sponsoren in den teils leeren SüperLig-Stadien anspielt und über den ich noch Tage später nachdachte: "Es ist paradox, dass der kapitalistische Fußball sich derzeit selber auffrisst und uns Fans die Hoffnung gibt, das Passolig ein Ende finden wird."

Die Überbrückung der Winterpause schildern 14 Gruppen aus ihrer Sicht. Fand ich nicht uninteressant, ist aber im Vergleich zu dem, womit die Ausgabe 35 sonst punkten kann, eher zweitrangig. Zum Ende des Heftes wird die gute Idee der Rubrik "Fanzine Inside" aufgerollt. Diesmal mit einem Abdruck vom Gespräch mit einer Führungsperson des Magdeburger Block U, das im Heft "Unterwegs #10" von Josef Gruber, der weiter vorne im aktuellen BFU bereits ein älteres, aber absolut lesenswertes Interview mit der inzwischen aufgelösten Fossa dei Giganti aus Agrigento zur Verfügung stellt, erschienen war. Letztlich ein superspannender Abschluss, auch wenn ich mich mit so mancher Wortwahl und der wertkonservativen Ansicht des Magdeburgers (Gründer des Commando East Side) absolut nicht identifizieren kann.

Feste Bereiche wie die Medienecke, die Fanzine-Pinnwand und die neu eingeführte Übersichtskarte über regionale Einzugsgebiete (gab's vor Jahren bereits mit dem Ruhrgebiet im Zuge eines BFU-Interviews mit Ultras Gelsenkirchen) werten das Heft weiter auf und sind nicht unwichtige Puzzleteile eines Magazins, das seit Jahren auf einem kontinuierlichem Niveau über die wohl bedeutendste Jugend-Subkultur Europas berichtet. Gerade im Zeitalter des World Wide Webs sollten solch Interviews, wie zum Beispiel vor einigen Monaten mit den Red Blue Eagles 1978 aus L'Aquila oder dem Generationen-Gespräch der Ultras Rapid in Ausgabe 29 von der Szene mehr gewürdigt werden - sie sind Gold wert und Dokument einer großartigen Bewegung.

 

STS